Wenn es um das Thema Essen geht, glauben wir gern an bestimmte Dinge. Für viele Menschen ist Nahrungsaufnahme quasi zum Religionsersatz geworden. Sie lassen auf ihrem täglichen Speiseplan vieles von dem weg, was ihnen früher ein Genuss war. Alles in dem Glauben, sich damit etwas Gutes zu tun. Manches entpuppt sich bei näherer Betrachtung allerdings als Mythos und hält keiner wissenschaftlichen Prüfung stand. Heute unter der Lupe: Gluten.
Essen sollte in erste Linie Genuss sein! Und gesund! Und am besten auch umweltverträglich und ethisch korrekt. In Sachen „gut Essen“ hat sich in den letzten Jahren viel getan. Lebensmittel-, Pharma- und Fitnessindustrie werden nicht müde, immer neue Trends und Erkenntnisse auszurufen, um dieses neues Bewusstsein zu füttern. Glutenfrei, bio, veggie, vegan, low-carb, zuckerreduziert, laktosefrei, fettarm – der Handel bietet viel Abwechslung aber auch Verwirrung. Was ist also wirklich dran beziehungsweise drin? Was ist eine echte Bereicherung für den täglichen Speiseplan, was eine Mogelpackung? Im Gespräch mit Ärzten, Ernährungsberatern und Diätassistenten trennen wir in Punkto Ernährungsmythen die Spreu vom Weizen.
Fangen wir doch gleich beim Weizen an – ein für viele zum Reizthema gewordenes Getreide. Und gehen dabei direkt zum Schlagwort „Glutenunverträglichkeit“. Was macht eigentlich Gluten? Und ist jede Glutenunverträglichkeit gleichzusetzen mit Zöliakie?
Für Menschen mit einer medizinisch diagnostizierten Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) war es noch vor wenigen Jahren eine echte Herausforderung in normalen Lebensmittelläden glutenfreies Brot oder andere glutenfreie Produkte zu bekommen. Heute sind die Regale in Supermärkten, Discountern und Drogeriemärkten voll mit glutenfreien Keksen, Brötchen, Müsliriegeln und Frühstücksflocken. Man könnte glauben, der Anteil von Erkrankten ist dramatisch gestiegen. War vor einigen Jahren in Deutschland laut der deutschen Zöliakie-Gesellschaft noch einer von 1000 bis 2000 Menschen an einer Glutenunverträglichkeit erkrankt, ist es inzwischen einer von etwa 250 Personen. Der Markt boomt – aber nicht nur wegen der tatsächlich Erkrankten sondern auch, weil viele Menschen glauben, dass sie ihrem Körper mit einer glutenfreien Ernährung etwas Gutes tun. Ein Irrtum?!
Unverträglichkeit von Gluten
„Man muss wissen: Es gibt die erworbene Glutenunverträglichkeit und die genetische Zöliakie (Sprue), das ist ein riesiger Unterschied“, erklärt Ursula Schöller, ganzheitliche Ernährungsberaterin. Wer diese genetische Unverträglichkeit hat, der muss glutenfrei leben, weil er das Gluten nicht aufspalten kann. Schöller begründet: „Der Patient würde an der Darmentzündungen buchstäblich zugrunde gehen, da die Nährstoffe nicht mehr in ausreichender Menge absorbiert werden. Infektanfälligkeit, unerwünschter Gewichtsverlust und weitere Spätfolgen einer dauerhaften Mangelernährung sind zu befürchten. Sogar die Darmkrebshäufigkeit nimmt drastisch zu.“ Nicht jedes Bauchzwicken sei aber automatisch eine Glutenunverträglichkeit.
Bei der erworbenen Glutenunverträglichkeit liegt meist ein Grund vor, warum der Körper Gluten schlecht verstoffwechselt. Gründe sind unter anderem Stress und falsche Ernährung. Dabei stehen meist zu viele Säurebildner wie Milchprodukte und Fleisch oder verarbeitete Kohlehydratprodukte wie Nudeln, Brot, Fertigsoßen, Fertiggerichte, vor allem Weißmehlprodukte in der Kritik. Aber auch Alkohol und Nikotin belasten den Körper. All das landet als Übersäuerung in unserem System.
Schöller: „Das liegt natürlich auch daran, dass unser Leben ein einziger Säurebildner ist. Wir müssten, besser gesagt, müssen bei unserem heutigen Lebenstempo viel basischer essen, um Stressfaktoren besser auszugleichen.“ Der Bedarf an Mikronährstoffen (Mineralstoffen, Spurenelementen und Vitaminen) sei bei permanenter Anspannung dauerhaft erhöht. Das heißt, wir brauchen beispielsweise mehr Vitamin C und Magnesium, um beispielsweise die Belastung für den Organismus durch Handystrahlung oder andere Umweltverschmutzung zu entschärfen.
Mit „Clean Eating“ auf der sichern Seite
Zurück zum Gluten. Was genau ist das eigentlich? Ursula Schöller: „In Samen befinden sich die unter anderem die Pflanzenproteine (Lektine) Gluten oder Klebereiweiß und Agglutinine. Die versorgen den Samen bei der Keimung und schützen die Getreidepflanze vor Fressfeinden und Pilzerkrankungen. Früher lag der Anteil an Gliadin (so ist der Fachbegriff des Weizenglutens) und Agglutininen (WGA) im Weizen bei etwa 5 Prozent. Durch Züchtungen wird heute ein wesentlich höher Anteil erreicht, da sich auch die Gentechnik der Effektivität der WGAs bedient.“ Damit reagiert der menschliche Körper immer öfter empfindlich, da diese beiden Lektine die Darmschleimhaut angreifen, schlecht verdaut werden und eine Darmdysbiosie nach sich ziehen können. Dadurch sind glutenfreie oder –reduzierte Alternativen durchaus sinnvoll. Das sind zum Beispiel nicht gentechnisch veränderte Getreidesorten aus dem Bioladen, Nudeln aus Dinkel, Urweizen oder Kamut. Letzteres ist auch ein Art Urweizen, sehr lecker und gibt’s auch im Bioladen.“
Nicht in den Einkaufswagen sollten Fertigsoßen und Fertiggerichte: „Da ist eigentlich immer Gluten drin.“ Um wirklich sicher sein zu können, sollte man die Mahlzeiten am besten selber zubereiten. „Dann weiß man ganz sicher, was drin ist.“ Das nennt sich Neu-Deutsch „Clean eating“. Die Expertin rät weiter: „Finger weg von künstlichen Mehlsorten, die eine glutenfreie Variante darstellen. Diese enthalten so viele alternative Bindemittel und weitere Zutaten, die durchaus auch ihre schädigende Wirkung auf die Darmschleimhaut entfalten.“
Text: Bettina Sewald
Foto: unsplash/Melissa Askew